23. Februar 2012

Von wegen Bürgerrechtler: Gaucks Freiheit

»Seit Anfang 1990 waren wir in ziemlich unerfreuliche Entwicklungen hineingerutscht. Sämtliche `89er Hoffnungen auf eine freiheitlich-sozialistische Entwicklung hatten sich erledigt. Ich erinnere mich, wie wir um den Jahreswechsel 1989/90 die Rostocker Lange Straße entlangliefen – ein paar hundert Leute mit einer schwarzen VL-Fahne mit rotem Stern. Die Hafenarbeiter waren an uns – die »Initiative Vereinigte Linke« - mit der Bitte herangetreten, sie bei der Bildung eines Hafenrates zu unterstützen. Das war ein Hoffnungsschimmer: Die Revolution war noch lebendig. Das Management wollte nur einen »Beirat« ohne Entscheidungskompetenz akzeptieren. Die Belegschaft fühlte sich zu recht verarscht. Wir rieten ihr, nichts zu unterschreiben. Wir waren alle ein bißchen skeptisch. Aber wir würden tun, was in unserer Macht lag, die Öffentlichkeit mobilisieren, die Manöver der Funktionäre aufdecken, die Universität revolutionieren. Die Stasi aushebeln. Das Steuer herumreißen. Studenten und Arbeiter gemeinsam. Die freie Kommune Rostock. Mit den Packern vom Überseehafen. Das Tor zur Welt.

"Sie wissen, wie es gemacht wird. Aber was für Arschlöcher sind manche" (Mexico City 1994)

Unsere Schwierigkeiten, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, wurden von Tag zu Tag größer. Rostocks Pastor Joachim »Jochen« Gauck hatte mehr Erfolg als wir. Eine der ersten politischen Aktionen des Mannes, der zunächst als Schirmherr der Rostocker »Donnerstagsdemos« bekannt wurde und später einer Bundesbehörde seinen Namen lieh, hatte im Herbst 1989 darin bestanden, die »Böhlener Plattform für eine vereinigte Linke« vom schwarzen Brett seiner Kirche abzureißen. Für solche wie uns hatten die gerade erkämpften demokratischen Freiheiten nicht zu gelten. Wir ließen uns das nicht bieten, aber von Woche zu Woche wurde klarer, daß wir immer mehr in die Defensive gerieten. Vielleicht hatte Jochen Gauck mehr Charisma als wir. Auf jeden Fall hatten seine Freunde mehr Westgeld.«

Jörn Boewe, in: ... das war doch nicht unsere Alternative: DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, hrsg. von Bernd Gehrke und Wolfgang Rüddenklau, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1999