29. Januar 2012

Qué triste la corrida

El Negro kniete direkt vorm Ausgang des corrals. Der novillo-toro, ein wunderbares, urzeitliches Ungeheuer aus der tierra templada Michoacáns, schoss in die Arena, ein kleiner schwarzer Blitz aus Hörnern, Hufen und Nackenmuskeln. El Negro ließ ihn mit einem Herumwirbeln der capa haarscharf an sich vorbeifliegen. Es war die beste Eröffnung, die Tom je gesehen hatte. Sie dauerte nur eine halbe Sekunde. El Negro hatte sich während dieser halben Sekunde nicht von der Stelle gerührt. Der Stier stand verwirrt in der Arena.

Die Menge sprang von ihren Sitzen. Sie mochte El Negro nicht besonders, aber diese Eröffnung war zu offensichtlich gut gewesen. El Negro ignorierte den Applaus. Es schien ihm nichts zu bedeuten. Er arbeitete konzentriert. Seine capa-Manöver waren exakt. Er war darauf bedacht, den Stier ins Leere laufen zu lassen, ohne ihn jedoch zum Stolpern zu bringen oder durch zu scharfe Wendungen seine Wirbelsäule zu verletzen. Er war brilliant mit der capa.

Plaza Méxio, Sommer 1994
El Negro ging aus der Arena, und die zwei picadores ritten hinein. Die meisten matadores und novilleros erwarteten von ihren picadores, dass sie den Stier ruinierten. Sie stießen die pica drei-, viermal in den Nacken des Stieres, drehten sie in der Wunde herum, um den mächtigen und gefährlichen Nackenmuskel zu zerfetzen oder das Rückgrat des Stieres zu beschädigen. Die picadores waren beim Publikum die unbeliebtesten aller Stierkämpfer und wurden regelmäßig ausgepfiffen.

Der Stier griff das Pferd des ersten picadors, der ihm unter die Augen kam, in gerader Linie an. Der picador plazierte die pica nur einmal: nicht zu weit vorn, nicht zu weit hinten, und er setzte sie rechts von der Wirbelsäule. Der Stier hatte mit dem rechten Horn angegriffen. Es gab Rechts- und Linksausleger bei den Stieren. Wie beim Boxen, dachte Tom, der Unterschied ist, dass du es bei der corrida vorher nicht weißt. Aber El Negro hatte bei seiner kurzen capa-Arbeit den Stier aufmerksam studiert. Der picador setzte die pica nur ein einziges Mal und hielt mit seinem ganzen Gewicht gegen den Angriff des Stiers. Der Stier war mutig, voller Wut, der Schmerz schien ihm überhaupt nichts auszumachen.

El Negro ging mit der capa in die Arena, um den Stier vom Pferd wegzubringen. Der picador hatte gute Arbeit geleistet, gerade nur das Nötigste. Dennoch wurde er ausgepfiffen, nur weniger heftig. Na klar, dachte Tom, das sind die, die denken, dass man picadores auspfeifen muss, weil picadores immer ausgepfiffen werden. Es saßen haufenweise Leute mit Cowboyhüten, weißen Rüschenhemden und ledernen Weinschläuchen mit dem Aufdruck »Pamplona« in der Plaza México. Es war verboten, Alkohol mit in die Arena zu bringen. Man konnte Corona-Bier in Plastikbechern kaufen, aber man durfte nichts mitbringen. Die Weinschläuche waren leer, und die Cowboys baumelten sie sich nur aus Spaß um den Hals.

Tom sah zu Laura hinüber. Sie war zum ersten Mal bei einem Stierkampf, und er war gespannt, wie sie reagieren würde. »Gefällt es dir?«, fragte er.
»Das mit den picas nicht«, antwortete sie, »aber das ambiente

Dann kam der Teil mit den banderillas. Hemingway hatte behauptet, dass den meisten Gringos oder Europäern, die keine Spanier waren, oder überhaupt Leuten, die zum ersten Mal zu einem Stierkampf gingen, dieser Teil am besten gefiel. Das stimmt nicht, dachte Tom. Am besten gefällt ihnen der Teil mit den capas am Anfang, bevor die picadores kommen. Die banderillas gefallen ihnen zwar, aber sie denken, dass es Tierquälerei ist, Stöcke mit Widerhaken in den Nacken des Stieres zu rammen. Die capas wirbeln so schön und malerisch durch die Luft, und es fließt kein Blut. Wahrscheinlich konnte man mit der capa dem Stier größere Schmerzen zufügen und ihn vor allem viel ernsthafter verletzen. Die banderillas waren furchtbar für den Stier, aber nicht wegen dieser lächerlichen Haken. Tom hatte beobachtet, wie die aggressivsten Stiere, die die pica überhaupt nicht zu spüren schienen, vor Wut und Schmerz aufbrüllten, wenn sie mit dem banderillero konfrontiert waren. Aber dieser Schmerz war eindeutig psychischer Natur. Es war erstaunlich, aber diese Stiere brüllten nicht in dem Augenblick, in dem die banderillas plaziert wurden, sondern wenn sie bemerkten, dass sie den Mann nicht erwischten. Es war einfach unfassbar für sie. Der banderillero war bloß ein unberittener Mann, ohne capa, aber wenn er aufpasste, konnten sie ihn nicht erwischen. Es ist, als ob in diesem Moment ihr gesamtes Weltbild zusammenbricht, dachte Tom, falls Stiere sowas wie ein Weltbild haben. Aus angriffslustigen, siegesgewissen Ungeheuern wurden in diesem Moment hinterhältige, verunsicherte, defensiv kämpfende Bestien. Und genau das war es, was sie so gefährlich machte.

Diese Gringos waren einfach unfähig hinzusehen. Er dachte »Gringos«, aber er meinte gar nicht bloß die Nordamerikaner.

Er dachte an Laura, und plötzlich merkte er, wie müde er war. Es fing an zu regnen. Es war immer so während der Regenzeit. Immer nach dem zweiten Stier. Deshalb begann die eigentliche Stierkampfsaison erst im Oktober. Jetzt machten sie nur novilladas, Lehrlingskämpfe, aber Tom mochte die novilladas. Die Stiere waren nicht so ausgesucht, weil die novilleros kein Geld hatten, sich schwache Stiere aussuchen zu lassen, und sie mussten sich Mühe geben.

Er erinnerte sich, wie er zum ersten Mal bei Laura zu Hause war. Sie wohnte in einer abgeschlossenen Wohneinheit, einem Häuserblock, eingezäunt von einer Mauer mit Stacheldraht obendrauf. Am Eingang gab es ein Pförtnerhäuschen mit einer Schranke, und wenn man jemanden besuchen wollte, musste man anrufen. Er wusste, dass viele Angehörige der Mittelklasse so wohnten, und dass es nicht unbedingt etwas Schlechtes über diese Leute aussagte. Die Wohnung war sehr bequem und groß. »Dein Haus ist schön«, hatte er gesagt, wenngleich das nicht ganz ehrlich war. »Es un apartment maravilloso«, fügte er hinzu, apartment, er benutzte das englische Wort.
»Y la tuya también«, antwortete sie. »Deins auch.«
»Du kennst meins doch noch gar nicht.«
»Nein«, sagte sie. »Ich meinte: Mein Haus ist auch dein Haus.«

Er spürte, wie es ihm über den Rücken kribbelte. Das Trompetensignal kündigte das letzte Drittel des Kampfes an. El Negro ging mit der muleta und dem Degen hinein. Laura und Tom krochen unter dem Regenschirm zusammen. Er sollte ihn schnell und sauber töten, dachte Tom. Das war das Beste, was er bei diesem Sauwetter tun konnte.

El Negro führte einige gute Manöver mit der muleta aus. Sie war pitschnass und schwer, was die Sache bei diesem Wind etwas einfacher machte. Dann ging er über das rechte Horn zum Töten hinein. Er machte alles richtig, aber er hatte Pech und traf auf das rechte Schulterblatt. Der Degen bog sich und sprang heraus, der Stier brüllte vor Wut und wendete. Da rutschte El Negro im nassen Sand aus. Tom zuckte zusammen. Zwei banderilleros sprangen in die Arena, um den Stier mit ihren capas von El Negro wegzubringen. Es war nochmal gut gegangen. El Negro saß der Schreck in den Knochen. Er ging ein zweites Mal hinein, aber man konnte sehen, dass er all seine Sicherheit und Eleganz verloren hatte. Er stach den Degen nur zur Hälfte hinein und sprang beiseite. Scheiße, dachte Tom. Es hatte so verdammt gut angefangen. Jetzt war klar, dass El Negro es auf ein descabezamiento anlegte. Wenn er zweimal ordentlich hineingegangen war, durfte er beim Präsidenten die Erlaubnis erbitten, den Stier mit dem descabezar-Degen zu töten. Das war ein Degen mit einer verbreiterten Spitze, mit der man dem Stier, während man seinen Kopf mit der muleta unten hielt, das Rückenmark durchtrennte. Er fiel um, als ob man den Strom ausknipste.

Scheiße, dachte Tom, er hat einfach Schiss gekriegt und ist das zweite Mal nur noch zum Schein hineingegangen. Die ganze Zeit hat er kein Theater gespielt, und jetzt das.

Plaza México, Sommer 1994
Es war entwürdigend mitanzusehen. El Negros Leute drehten den Stier mit ihren capas so lange im Kreis, bis er das Gleichgewicht verlor und in die Knie ging. Dennoch musste El Negro dreimal mit dem descabezar-Degen zustoßen, bevor er die richtige Stelle traf.
»Lass uns gehen«, sagte Tom.
»Kommst du mit?«
»Nein«, antwortete er. »Ich muss morgen früh arbeiten.« Das stimmte. Er rief ein Taxi.
»Ruf mich an«, sagte sie.
»Komm gut nach Hause«, sagte er.
Das Taxi fuhr ab. Er stand noch einen Moment im Regen. Dann ging er zur Ecke División del Norte, wo die colectivos abfuhren. Was bist du für ein Arschloch, dachte er. Was bist du bloß für ein Feigling. Warum sagst du ihr nicht, dass du sie nicht anrufen wirst. Aber sie würde es ja doch nicht verstehen, rechtfertigte er sich. Also war es egal. Es ist verdammt nochmal nicht egal, sagte er sich. Wenn du so anfängst, ist in spätestens einem Jahr nichts mehr von dir übrig.

Der colectivo kam. Tom stieg ein und noch ein paar Leute, die gerade aus der Plaza México gekommen waren. Ein einäugiger Alter setzte sich neben Tom. Ein aficionado, dachte Tom. Hat nur ein Hemd und ein Paar zerrissene Jeans, aber kommt garantiert jeden Sonntag hierher.
»Ay, qué triste la corrida, muchacho«, sagte er zu Tom. »Was für'n trauriger Stierkampf.«
»Ja«, antwortete Tom. »Die Leute wollen ¡olé! schreien, weiter nichts.«

(Berlin, Herbst 1995)