28. Dezember 2011

El descubrimiento

Nach fast fünfzehn Jahren ist mir dieser Tage meine Diplomarbeit von 1997 wieder in die Hände gefallen: "Der Aufstand von Chiapas und seine Auswirkungen auf die politische Krise Mexikos". Es war einer der ersten Versuche überhaupt, dieses Ereignis, das ja erst drei Jahre zuvor begonnen hatte und noch immer nicht abgeschlossen war, zu untersuchen.

Man merkt dem Text an, dass ich Unmengen von Literatur gewälzt hatte (was bei solchen Arbeiten normal ist), aber auch, dass ich selbst mittendrin oder zumindest nah dran war, an den Entwicklungen, über die ich schrieb (was nicht normal ist und verschiedene Risiken birgt, auch dort, wo weniger scharf geschossen wird). Was mir mit dem Abstand von anderthalb Jahrzehnten auffällt, ist das Bemühen, praktische Anschauung und theoretische Reflexion in jedem Moment zu verbinden.

In einem anderen Land: Mein Schreibtisch in der Calle Malintzin 24, Coyoacán, Mexico D. F., 1994

Der ganze Text ist inspiriert von der "Philosophie der Praxis" (als solche verstand Antonio Gramsci den Marxismus). Über die "entgegengesetzten Interpretationen" die rechte und linke Intellektuelle über den Aufstand der Zapatisten anstellten, schrieb ich damals:

"Selbstverständlich sind beide Diskurse nicht nur analytisch oder geschichtsphilosophisch, sondern beinhalten auch grundverschiedene politische Programme. Die Verfechter desjenigen, welches sich in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten der Tendenz nach mehr oder weniger durchsetzen können wird, werden schließlich auch - gewissermaßen mit Recht - behaupten können, in der Analyse richtig gelegen zu haben. Denn beide Paradigmen enthalten unter der Oberfläche rechten bzw. linken 'Wunschdenkens' einen Kern möglicher historischer Alternativen."

Ich kam im Januar 1995 nach einem halben Jahr Recherche aus Mexiko zurück ins winterliche Berlin, heizte den Kachelofen in meiner noch-nicht-gentrifizierten Einraumwohnung im Prenzlauer Berg an und fing an zu schreiben. Nun, ganz so romantisch war es nicht: Ich brauchte viel Zeit und Kraft, um irgendwelchen Jobs nachzugehen. Meine Eltern unterstützten mich, soweit sie konnten, aber das reichte nicht weit. Also fuhr ich LKW, klopfte Steine, schleppte Möbel. Im Sommer 1997 hatte ich eine phantastische Stelle bei den Berliner Bäderbetrieben als Rettungsschwimmer zunächst im alten Schwimmbad Ganghofer Straße und dann im Columbiabad Neukölln.

Als ich den Text fertig hatte, wurden mir sämtliche Exemplare buchstäblich aus den Händen gerissen (es gab damals praktisch keine aktzeptablen Gesamtdarstellungen, schon gar nicht auf Deutsch). Ich selbst behielt kein einziges zurück. Die Datei lag auf meinem Apple-Powerbook, solange, bis es seinen Geist aufgab. Es gibt einige umherschweifende Exemplare, es gibt eines in der Bibliothek der Freien Universität Berlin, und es gibt jetzt endlich ein digitales Exemplar hier im Netz.